Abgeschickt von Werner Baumgarten am 25 Juli, 2005 um 11:41:26:
Antwort auf: Klassifizierung der Schluchten nach Schwierigkeiten von Peter Vogel am 19 Juli, 2005 um 12:17:28:
Die Schwierigkeitsbewertung ist beim Canyoning aus mehreren Ursachen komplexer als bei vergleichbaren Sportarten:
1. wegen der großen Anzahl von verschiedenen Faktoren, aus denen sich die Schwierigkeiten ergeben können (Insofern ist der Ansatz berechtigt, wenigstens zwischen Aquatik und Seiltechnik - letztere meint Peter wohl mit "Technik" - zu unterscheiden.)
2. weil unter erfahrener Leitung Anfänger sogar sehr schwierige Touren mitmachen können, was z.B. beim Klettern oder Kajakfahren nicht möglich ist
3. weil auch der psychologische Faktor nicht außer Acht gelassen werden darf: z.B. macht es technisch kaum einen Unterschied, ob zwischen zwei 50m-Abseilern 50 m waagerechte Strecke liegen oder 0,5 m (vorausgesetzt, sie sind so eingesichert, daß das Seilabziehen kein Problem ist, und nicht eine große Gruppe mit zu wenig Seilen unterwegs ist) - aber es gibt viele, für die das eine kein Problem ist, während sie im anderen Fall das kalte Grausen packt.
Natürlich bezieht sich die Schwierigkeitsbewertung auf den leichtesten Weg, d.h. wenn eine Schwierigkeit leicht zu umgehen ist, dann zählt sie nicht, und auf einen niedrigen Wasserstand. Es ist selbstverständlich, daß sich die Schwierigkeit bei einer Veränderung der Sicherungen, bei hohem Wasserstand oder bei Einschlagen eines anderen Weges (z.B. direkt im Wasserlauf) wesentlich verändern kann.
Zu den verschiedenen Skalen:
Das System von Hofmann ist zwar jüngst in Österreich zu ganz unerwarteten Ehren gekommen, hat aber große Nachteile:
- Es hat zu wenig Abstufungen.
- Es ist nicht unmittelbar einprägsam, sondern muß erst mit Hinzuziehen der Erklärung dechiffriert werden.
- Es weicht stark ab von den sonst üblichen Systemen, ohne dafür große Vorteile zu bieten.
Bei den Franzosen, die sich über diese Frage schon ein paar Jahrzehnte länger Gedanken gemacht haben, sind zwei Systeme stark verbreitet:
1. eine 6-stufige Skala von "leicht" bis "extrem schwierig", vergleichbar in etwa mit unseren Stufen C1 bis C6. So schlecht finde ich diese Skala nicht, denn was spricht eigentlich dagegen, explizit in die Beschreibung aufzunehmen, worin die Hauptschwierigkeiten bestehen? (Nochmal zur Erklärung, weil es dabei immer wieder zu Verwirrung kommt: ein "Topo" ist eigentlich eine Zeichnung, ein Längsschnitt des Canyons mit allen Stufen und Hindernissen, im Gegensatz zu einer Beschreibung, bei der die wichtigen Daten genannt werden wie Zustieg, Ausstieg, Länge, Seilbedarf, Schwierigkeit(en).)
2. eine stärker differenzierte Skala, bei der zwischen Schwierigkeiten im aquatischen Bereich, in Seiltechnik und in Klettertechnik unterschieden wird und zusätzlich noch das "engagement" angegeben wird, was man vielleicht mit Anspruch, Ernsthaftigkeit, Ausweglosigkeit übersetzen kann. Diese Skala wird auch in dem Schweizer Führer des SAC benutzt.
Erwähnenswert sind noch zwei Varianten der letzten Skala:
- bei www.swisscanyon.ch wird jede der Sparten bewertet, z.B. 3a,4b,2c,III (statt 4b III)
- bei www.canyoning.it/verstedesco/standards/schwierigkeit.pdf findet man die neueste Skala der Italiener (in deutscher Übersetzung). Anwendungsbeispiele findet man bei www.cicarudeclan.com. Vorteilhaft bei dieser Skala finde ich die Bezeichnung: Bei v (=vertikal) und a (=aquatisch) weiß jeder sofort, was gemeint ist - auch in anderen Sprachen. Die Bewertung der Kletterschwierigkeiten entfällt (bzw. ist unter v eingeordnet), was der Realität weitgehend entspricht, denn schwierige Klettereien sollten bei gut eingesicherten Canyons eigentlich nicht nötig sein. (Allerdings kann auf Klettertechnik auch nicht ganz verzichtet werden, z.B. Spreiztechniken in engen Canyons oder Hinklettern zu exponierten Standplätzen, Einbau eines Handlaufseils.) Von Nachteil finde ich die Erweiterung von 6 auf 7 Stufen und beim Engagement von 4 auf 6 Stufen, weil mir die Notwendigkeit, von der sonst üblichen Skala abzuweichen, nicht einsichtig ist. Auch darüber, ob die Gesamtlänge einer Tour in die Bewertung einfließen soll, kann man streiten.
Meiner Ansicht nach sollten auch Sprunghöhen, Rutschen und Schwimmstrecken (in ruhigem oder leicht strömendem Wasser) für die Bewertung irrelevant sein, denn in einem korrekt eingesicherten Canyon gibt es keine obligatorischen hohen Sprünge oder Rutschen. Und selbst eine Schwimmstrecke von 1 km erhöht nicht die Schwierigkeit eines Canyons (Beispiel: Barrasil in der Sierra de Guara).
Zum Schluß möchte ich noch davor warnen, Schwierigkeit mit Gefährlichkeit zu verwechseln. Bei Letzterer sind noch ganz andere Faktoren zu berücksichtigen, wie Hochwassergefahr (Saugfähigkeit des umgebenden Bodens, Größe des Einzugsgebiets, Kraftwerke, Wasserstand, Wetterlage), Steinschlaggefahr (Brüchigkeit des Gesteins, steile Seitenwände mit losem Geröll), Holzverhaue, Zustand der Sicherungen etc. Selbst ein leichter Canyon kann in entsprechenden Situationen sehr gefährlich sein!